Wie ich Weseram erlebte

Der Brandenburger Karl-Heinz Busse, geboren 1930, verbrachte viel Zeit seiner Kindheit in Weseram. Hier die Erinnerungen, wie er als Kind die Zeiten des Krieges in Weseram erlebte.

Wie ich Weseram erlebte.

Im Jahre 1941 wechselte ich von der Brandenburger Jahnschule in die Theodor-Körner-Schule, Mittelschule für Jungen, vormals Bürgerschule.

kh busse3Einige Klassenkameraden stammten aus den umliegenden Dörfern. Es waren meist Bauernsöhne, die per Fahrrad zur Schule kamen, was bei Witterungsunbillen unangenehm war. Der uns heute bekannte Schulbusbetrieb existierte seinerzeit nicht. So lag es nahe, ein Winterquartier für den Sohn in der Stadt zu suchen.
Kriegsbedingt verknappten sich die Lebensmittel, sodaß meine Mutter Verbindung zu der Bäuerin Alwine Hübner, Weseram Nr. 19 aufnahm. Ich teilte nun über Winter mein Zimmer mit dem Klassenkameraden Arno Hübner, was mir zwar nicht gefiel aber notwendig war. So waren Kartoffeln, Mohrrüben und auch Zuckerrüben gesichert; letztere zur mühsamen Herstellung von Sirup. Wenn ich mal einen Tag frei haben wollte, kam vom Klassenlehrer Büstrin prompt die Frage: „ Fährst du wieder zu Hübners. Wenn ja, frage bitte, ob ich auch mal wieder kommen darf.” Die Lehrer hatten auch Hunger. So war nicht verwunderlich, daß die Bauernsöhne bessere Noten erhielten.

Der Bauernsohn Arno brachte Proviant für die ganze Woche mit, aß aber alles alleine auf. Als einmal ein Knecht Kartoffeln und Möhren mit dem Pferdegespann aus Weseram brachte, gab es Fliegeralarm, der uns in den Keller zwang. Nach der Knallerei waren Pferde und der Wagen nicht mehr vor der Tür. Sie waren auf und davon. Schließlich fanden wir sie am Ende unserer Straße, direkt an der Havel. Sie waren in ihrer Not um das ganze Karree gestürmt.
Auf dem Hof der verwitweten Frau Hübner halfen ein französischer Kriegsgefangener aus dem Lager beim Gastwirt Hermann Müller und eine Polin. Der sonst mitarbeitende Getzkow war wohl inzwischen eingezogen worden.

Das Grundstück Weseram Nr. 19 bestand aus einem strassenseitig gelegenen recht stattlichen Wohnhaus, an dem die Toreinfahrt anschloß.Östlich daneben befand sich der Schweinestall, der auch das primitive Plumpsklo aufnahm. Ein Besuch hier wurde vom Schweinegrunzen begleitet. Die Ostflanke schloß sich durch den Kuhstall, der etwa 30 Milchkühe aufnehmen konnte. Darüber lagerte man Heu ein, das durch Luken auf die Futtertische geworfen werden konnte. Der nördliche Giebelbereich diente der Futteraufbereitung. Die Nordseite des Gehöfts schloß sich durch die Scheune, in der sich eine Dreschmaschine befand. Im relativ großen Hofraum dominierte der Misthaufen mit einer Jauchelache, die je nach Wetterlage zu- oder abnahm. In der Nähe des Scheunentores grub man eine Grube zur Aufnahme des Küchenabwassers, das direkt über eine offene Rinne eingeleitet wurde. Nach den Drescharbeiten wurde das Kaff dort hingetan. Zur Sicherheit dienten kieferne Stangen als Absperrung.
Der hauswirtschaftliche Teil des Wohnhauses war recht primitiv. Es gab kein fließendes Wasser und somit auch keinen Sanitärbereich. In der Küche befand sich eine Handpumpe zur Förderung von Trinkwasser; deren Brunnen wohl nicht in gebührenden Abstand zum Jauchebereich stand. Die Küchenabwässer ergossen sich über die schon genannte Rinne nach draussen. Die Verrichtung der Notdurft wage ich hier nicht zu beschreiben.

Zwischen dem Kuhstall und dem Schulgrundstück lag ein Garten, der für den täglichen Küchenbedarf an Gemüse und Kräutern gedacht war.
Während der Sommerferien verbrachte ich zweimal je eine Woche auf dem Hübnerhof und half auf dem Acker mit. Gerstengarben aufstellen auf dem Feld hinter dem Chausseebahnhof ist mir in Erinnerung geblieben, weil ich ein Polohemd an hatte und die Grannen darin stecken blieben. In der Nähe der Hörste, oder besser Horster Hutung, fuhr ich einen ganzen Tag Hungerharke und durfte dann mit dem ungesattelten Pferd zurück reiten. Je näher der Gaul ans Dorf kam, umso schneller wurde er. Ich hatte keinen Einfluß auf das Pferd.Es rannte mit mir in den Stall, ich konnte geistesgegenwärtig noch auf dem Rücken flachmachen und mit beiden Händen an der üppigen Mähne Halt suchen.
Nach Kriegsende standen die Ställe leer. Die Siegermacht hatte requiriert. Das reife Getreide wuchs nun auf dem Halm aus.

Wohl im letzten Kriegsjahr kamen Flüchtlinge aus dem Osten. Ich war zufällig zugegen als die große Familie Rosteck bei Hübner eingewiesen wurde.
Die sich häufenden Fliegerangriffe der Alliierten zwangen uns, sofern keine unaufschiebbaren Dinge vorlagen, bei klarem Wetter in Erwartung der Alarme, mit dem Fahrrad nach Weseram zu flüchten. So kamen Mutter und Sohn am 10. April 1945 frühzeitig in Weseram an. Meine Mutter half in Hübners Haushalt während Arno und ich mit den Angeln zur Havel fuhren. Gegen 14.30Uhr ertönten die Sirenen, was uns erst nicht interessierte. Aber als die Bomberformation ( 138 B17)über dem westlichen Stadtgebiet Brandenburgs sich anschickte, die tödliche Last ins Ziel zu bringen; war unsere Ruhe dahin. Hinter dem Götzer Berg stiegen schwarze Rauchwolken auf, die amerikanischen Begleitjäger hatten wohl einen Treibstofftransport erwischt. Ab ging`s in Richtung Dorf, als uns tieffliegende Jäger in Deckung zwangen. Sie schossen nicht. Die ohrenbetäubenden Detonationen ließen mich angstvoll vermuten, daß in meiner Heimatstadt nur noch Ruinen stehen. Aber es galt dem Fliegerhorst Briest, wo nun die gefürchteten Strahljäger vom Typ Me 262 nicht mehr starten konnten.
Mein Schulkamerad hat unsere Schule nach dem Krieg nicht mehr weiter besucht, obwohl noch zwei Jahre zu absolvieren waren. Er betrieb zusammen mit seiner Mutter den Hof. Als die staatlicherseits auferlegten Pflichten unerfüllbar wurden, verließ er Weseram.
Wir haben uns nie wiedergesehen.


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Karl Heinz Busse.